Seltsam
Heute vor 20 Jahren gegen 19.30 Uhr haben meine Mutter und ich nach dem Abendbrot den Fernseher angeschaltet, um des Vaters mikrophonhaltende Hand mit dem goldenen Ring in einer Pressekonferenz zu sehen. Während ich also fröhlich die Hand suchte, lauschte meine Mutter etwas interessierter, was Herr Schabowski zu sagen hatte. Und dann hörte auch ich hin, als nach einer merkwürdigen Äusserung ein westdeutscher Kollege meines Vaters direkt nachfragte und ein unsicheres "Ja" die Antwort war. Es war dunkel im Wohnzimmer, nur der Fernseher leuchtete bläulich bräunlich und wir waren ganz still.
Es war nicht ganz eindeutig, was da gesagt worden war. Die Nachrichten aus dem anderen Deutschland um 20.00 waren auch nicht klarer. Mein Vater, der dabei war, konnte nach seiner Rückkehr auch nichts genaueres sagen.
Es war Donnerstag und am darauffolgenden Freitag eine merkwürdige Stimmung in der Schule. Als ich am Samstag zur Schule ging, fehlten bereits einige Schüler in der Klasse, bei meiner Schwester waren nur einige gekommen, in anderen Schulen fehlten sogar die Lehrer. Spätestens da war es jedem klar, dass die zahlreichen Vorbeben dieses Herbstes in ein Erdbeben gemündet waren, welches dem ganzen Staat den Boden unter den Füssen fortriss. Ganz Berlin war an diesem Tag auf den Beinen, meine Familie auf dem Weg von Köpenick nach Steglitz, eine Freundin meiner Mutter besuchend. Berlin war noch geteilt, keine Verkehrsmittel fuhren über diese Grenze, den entscheidenden Schritt musste man noch wochenlang zu Fuss machen. Bis plötzlich wieder Züge auf der Stadtbahn fuhren, sich die Erde auftat und klar wurde, dass unter der Stadt jahrelang U-Bahnen fuhren, die hier in meinem Teil nicht hielten, durch Bahnhöfe, die noch im Zustand der Kriegszeiten waren, deren Eingänge einfach verschlossen worden waren und für uns hier lebende unsichtbar.
Nicht nur, weil ich Teenager war, war das kommende Jahr eines der aufregendsten in meinem Leben. Ich werde nie vergessen, dass alles vergänglich ist und wie leicht und schnell alle Autoritäten und Ideale in den Abgrund gestossen wurden, wie Denkmäler ausgetauscht und Strassennamen geändert wurden. Ich werde mich immer erinnern, wie plötzlich Phänomene wie Existenzangst und Armut umgriffen, wie wir als Familie in wenigen Jahren nahezu ganz Europa bereisten und wie meine Stadt sich verdoppelte und veränderte, von einer Aussenstelle der BRD und einer relativ unbedeutenden Hauptstadt eines kleinen Landes wieder zur gemeinsamen deutschen Hauptstadt wurde.
Diese Erlebnisse in den Schweizer Nachrichten zusammengefasst zu sehen, zu kleinen Teilsätzen Assoziationen zu haben, die anderen wohl für immer verschlossen bleiben, das ist seltsam.
Es war nicht ganz eindeutig, was da gesagt worden war. Die Nachrichten aus dem anderen Deutschland um 20.00 waren auch nicht klarer. Mein Vater, der dabei war, konnte nach seiner Rückkehr auch nichts genaueres sagen.
Es war Donnerstag und am darauffolgenden Freitag eine merkwürdige Stimmung in der Schule. Als ich am Samstag zur Schule ging, fehlten bereits einige Schüler in der Klasse, bei meiner Schwester waren nur einige gekommen, in anderen Schulen fehlten sogar die Lehrer. Spätestens da war es jedem klar, dass die zahlreichen Vorbeben dieses Herbstes in ein Erdbeben gemündet waren, welches dem ganzen Staat den Boden unter den Füssen fortriss. Ganz Berlin war an diesem Tag auf den Beinen, meine Familie auf dem Weg von Köpenick nach Steglitz, eine Freundin meiner Mutter besuchend. Berlin war noch geteilt, keine Verkehrsmittel fuhren über diese Grenze, den entscheidenden Schritt musste man noch wochenlang zu Fuss machen. Bis plötzlich wieder Züge auf der Stadtbahn fuhren, sich die Erde auftat und klar wurde, dass unter der Stadt jahrelang U-Bahnen fuhren, die hier in meinem Teil nicht hielten, durch Bahnhöfe, die noch im Zustand der Kriegszeiten waren, deren Eingänge einfach verschlossen worden waren und für uns hier lebende unsichtbar.
Nicht nur, weil ich Teenager war, war das kommende Jahr eines der aufregendsten in meinem Leben. Ich werde nie vergessen, dass alles vergänglich ist und wie leicht und schnell alle Autoritäten und Ideale in den Abgrund gestossen wurden, wie Denkmäler ausgetauscht und Strassennamen geändert wurden. Ich werde mich immer erinnern, wie plötzlich Phänomene wie Existenzangst und Armut umgriffen, wie wir als Familie in wenigen Jahren nahezu ganz Europa bereisten und wie meine Stadt sich verdoppelte und veränderte, von einer Aussenstelle der BRD und einer relativ unbedeutenden Hauptstadt eines kleinen Landes wieder zur gemeinsamen deutschen Hauptstadt wurde.
Diese Erlebnisse in den Schweizer Nachrichten zusammengefasst zu sehen, zu kleinen Teilsätzen Assoziationen zu haben, die anderen wohl für immer verschlossen bleiben, das ist seltsam.
Nachtreise - 9. Nov, 17:42
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