Freitag, 1. März 2013

Leben im Zug

Als Berliner kann ich pendeln grundsätzlich ersteinmal nicht als nachteilig sehen. Im Studium habe ich auf dem Weg von meiner Wohnung in Grünau zum Institut in der Spandauer Siemensstadt in der Ringbahn so vieles erledigen können. Ganz ohne mobile Kommunikation im Übrigen. Die einstündige morgendliche Fahrt bot Zeit für die leidigen Texte der sozialwissenschaftlichen Seminare und ganz besonders für die Unmengen an Lateinaufgaben. Da meine teilweise noch sozialistische Schule, wie auch das spätere Sprachgymnasium mir nur Russisch, Englisch und Französisch als Fremdsprache vermittelt hatten, verlangte ausgerechnet die TU-Berlin von mir, die fehlenden Lateinkenntnisse im Grundstudium nachzuholen. Die Berliner Ringbahn war perfekt. Damals war der Südring kaum in Nutzung, da weder der Fernbahnhof Südkreuz noch der dort ansässige IKEA eröffnet waren. So konnte ich einen Vierer in der S-Bahn als mein Büro nutzen. Zur Ablage des geöffneten Lehrbuches und der Grammatik diente dabei ein Zweisitzer, während ich auf der Bank gegenüber saß und in mein auf dem Nachbarsitz aufgeschlagenes Heft die mehr oder weniger korrekten Lösungsvorschläge notierte. Ich kann daher behaupten, meinen Lateinkurs in der S-Bahn gemacht zu haben.
Für meine Dissertation kann ich die Reise zwischen Basel und Zürich jedoch nur bedingt nutzen. Vor allem, weil sie so früh beginnt. Ich bin bei einer Weckzeit vor 7 Uhr einfach unfähig zu allen Tätigkeiten, die ich nicht automatisiert habe. Zudem ist dieser 7:33-Uhr-Zug nach Zürich sooo voll, dass man keinen Platz für nix hat, schon sitzen fällt schwer. Am besten also, man stellt sich tot und schläft. Zum Glück bin ich ein begnadeter Schläfer. Ich brauche nie viel Schlaf, aber ich kann überall und immer schlafen. Damit kann ich regelmäßig Leute mit Einschlafstörungen verärgern, aber zum Pendeln ist es eine ideale Fähigkeit. Nur muss man seinen Platz gut wählen, denn am Gang wird man mitunter unsanft vom Snackwagen am Musikantenknochen angestoßen. Einmal auf dem Hinweg, einmal auf dem Rückweg. Dafür ist aber der vorletzte Wagen ebenfalls perfekt, da zwischen dem ersten und dem zweiten anstoßen nur wenig Zeit vergeht, die man abwartn kann, um den zweiten Stoß zu vermeiden. Dieser Wagon ist auch praktisch, weil viele Schaffner von hinten nach vorn durch den Zug laufen, so daß die Kontrolle im vorletzten Wagen früh passiert und nicht erst, wenn man bereits eingeschlafen ist. Also vorletzter Wagen, Fensterplatz. Am Fenster gibt es zudem ein Tischchen, auf welches man als erfahrener Pendler das Generalabonnement ablegt. Es hat ein Foto von mir und das Ablaufdatum auf der Vorderseite, so daß der Schaffner gleich sehen kann, daß ich zum Reisen berechtigt bin, ohne mich zu wecken. Daneben sind nur noch Feinheiten wie der jahreszeitlich bedingte Sonnenstand zu beachten und die Oberschenkellänge, die olfaktorischen oder akkustischen Emissionen der Mitreisenden. Doch das wäre schon wieder eine eigene Pendlergeschichte...
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Berlin, Basel und ich

Ein Berliner in der Fremde

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