Schweizer Leben
Gerade haben sich zwei Großereignisse in Basel überschnitten und einander abgelöst wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können.
In der vergangenen Woche die ART Basel, die größte Kunstmesse der Welt (wirklich "die" ohne Einschränkung). Jeden Abend Vernissagen, Großevents und Festivitäten für die Kunstszene, die Basel so bunt belebt hat, daß ich mich wie in Berlin fühlen konnte. Dazu Geldadel von allen Kontinenten, Galeristen und Picasso und Zeitgenossen zum sattkaufen, dazu die aktuelle Avantgarde auf vier Messen...
Diese illustre Gesellschaft durfte sich das vergangene Wochenende in Basel mit dem Start der Fußball-Europameisterschaft teilen. Ein Ereignis, vor dem ich WM-geschädigter Berliner schon lange Angst hatte, die immer greifbarer wurde durch die zahlreichen Countdowns auf den wichtigen Plätzen Basels. Die Stadt war rotweiß, der öffentliche Verkehr setzte schon Stunden zuvor aus und zwischen jolenden und trötenden Fußballfans versuchten sich vereinzelt die versprengten Gucci- und Armani-tragenden ART-Besucher in Sicherheit zu bringen. Sehr fein zu beobachten! ;)
Doch welche Trauer, erst im Niesel des Eröffnungsspieles, dann gestern während des pünktlich zur Schweizer Nationalhymne einsetzenden Platzregens die große Niederlage. Der Gastgeber Scweiz fliegt als erste Mannschaft und bereits in der Vorrunde raus. Dabei war Basel gestern rotweißer als zum Nationalfeiertag am 1. August (ich weiß, Farben kann man nicht steigern...), denn das sind auch die türkischen Farben. Nach den 90 Minuten betretenes Schweigen in der ganzen Stadt. Der Anruf der großen Freundin aus Berlin kündet von Feuerwerk und Autocorsos dort, die Schweizer sind draußen. Die Slogans "Basel - mehr als 90 Minuten" und "Hopp Schwiiz" bekommen einen ironischen Nachklang...
Nachtreise - 12. Jun, 19:32
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Eine Eigenheit der Schweizer Demokratie ist die mehrmals jährlich stattfindende Befragung des Souveräns, also der Bevölkerung, in groß angelegten direkten Abstimmungen zu verschiedenen Themen. An diesem Sonntag sind einige bedeutende Entscheidungen gefallen.
Pünktlich zur Europameisterschaft mit den zu erwartenden internationalen Gästen hatte die SVP eine Initiative zur Einbürgerung gestartet. Die Plakate dafür zeigten eine Kiste mit roten schweizer Pässen, in die mit unterschiedlich farbigen Händen wild hineingegriffen wurde. Darüber wie gestempelt ein großes "STOPP". Die SVP wollte das Einbürgerungsverfahren wieder durch den Urnengang in den einzelnen Gemeinden entscheiden lassen, wodurch das Stimmvolk "nach Nase" des Bewerbers entscheiden konnte, nachdem sich dieser den Gemeindemitgliedern (also seinen Nachbarn) mit Schweizerdeutschkenntnissen, Vermögensvererhältnissen u.ä. vorzustellen hatte. 2003 wurde dieses Verfahren wegen seiner Willkürlichkeit vom Schweizer Bundesgericht für verfassungswidrig erklärt und die Einbürgerung den Verwaltungen der einzelnen Kantone übergeben, so daß ein durchsichtiges nachvollziehbares Reglement für die Einbürgerung entstand. Offenbar gab es anschließend eine Einbürgerungswelle, in welcher viele lang anhängige Verfahren abgeschlossen wurden. Die SVP schürte die sowieso stets vorhandene Angst der Schweizer vor Überfremdung und wollte das Einbürgerungsverfahren wieder dem Stimmvolk übergeben. Erstaunlicherweise hat dieses heute mit 64% gegen die Initiative und für die Beibehaltung der Einbürgerung durch die Verwaltungen entschieden!
Vor solchen Abstimungen erhält man von jeder politischen Partei und auch einigen anderen Gruppierungen mit Argumenten zum Thema und Empfehlungen, wie man abstimmen sollte. Eigentlich eine gute umfassende Information, aber auch eine Papierflut und eine Beeinflussung der Wähler. Auch gegen diese Vorabinformation gab es diesmal eine Initiative, um den Wähler unbeeinflußt und in den meisten Fällen auch allein zu lassen. Nicht jeder ist immer persönlich von den Abstimmungen betroffen und weiß daher überhaupt, worum es geht... Aber auch gegen diese Initiative und für weitere Informationen haben die Schweizer gestimmt.
Dann gab es einige kantonale Fragen, in denen zum Beispiel die Einwohner des Tessin gegen eine weitere Senkung ihrer Steuern gestimmt haben (sie haben bereits die drittniedrigsten in der gesamten Schweiz). Finde ich immer besonders witzig, über die Höhe der eigenen Steuern abzustimmen. Und nicht selten sind die Schweizer so vernünftig, sich die eigenen Steuern zu erhöhen...
Es wurden auch wieder große Neubauprojekte vor das Stimmvolk gebracht, dabei darf eigentlich nicht über die Entwürfe abgestimmt werden, sondern über die Bewilligung der Summe, die die Stadt/der Kanton für die Projekte ausgibt. So wurde im September aber auch der Neubau des Basler Stadtcasinos durch Zaha Hadid vorranging wegen Nichtgefallens abgeschmettert. Heute haben Basel und Zürich über das neue Messegebäde von Herzog-de Meuron in Basel und das neue Züricher Kongresshaus von Rafael Moneo abgestimmt und das ganz klischeetypisch. Zürich, wo seit 1939 kein aufsehenerregender Neubau mehr realisiert wurde, mal wieder gegen ihr Projekt; Basel, ein Mekka für Architekten, mal wieder dafür!
Nachtreise - 1. Jun, 20:31
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...ist seit einer Woche meins. Ein Oldtimer englischen Fabrikats. Es stand im Fahradladen an der Ecke als (natürlich gebrauchtes) Sonderangebot. Alles funktioniert bestens, es gibt sogar eine kleine Drei-Gang-Nabenschaltung, die Bremsen sind unverwüstliche Stänglibremsen (aber kein Kackeschieber, sondern Felgenbremsen), es ist seit Jahren mein erstes Rad mit Schutzblechen und vor allem funktionierender mechanisch betriebener Beleuchtung! Man kann aufrecht sitzen und hängt nicht wie auf meinem Sportrad mit dem Kopf wesentlich tiefer als mit dem Hintern darauf. Es ist wunderschön und ich fühle mich, wie auf einem großen Luxus-Ozeanliner vergangener Tage, wenn ich darauf geräuschlos durch die kleine alte Stadt gleite.
Trotz der Herkunft jedes einzelnen Teils von den Inseln ist es übrigens doch ein sehr schweizerisches Velo: Der Verkäufer sagte mir, es hat zuvor dem Altbundesrat Otto Stich gehört. Die sieben schweizer Bundesräte bilden das höchste politische Gremium des Landes. Einer von Ihnen ist reihum für jeweils nur ein Jahr der höchste Repräsentant: Bundespräsident. Otto Stich war dies in den Jahren 1988 und 1994. Trotzdem ist der Bundespräsident der Schweiz weder Regierungschef noch Staatsoberhaupt. Die Schweiz hat nämlich erstaunlicherweise kein Staatsoberhaupt, diese Aufgaben übernimmt das Kollegium der sieben Bundesräte als ganzes. Deshalb stattet die Schweiz gewöhnlich auch keine Staatsbesuche ab. Jeder Bundesrat vertitt wie die deutschen Minister nur sein Resort. Nur wenn unbedingt repräsentiert werden muß, tritt der schweizer Bundespräsident auf (UN-Generalversammlung). Trotzdem ist es vielleicht ein wenig als würde ich mit dem abgelegten Rad von Richard von Weizsäcker fahren...
Aber unabhängig davon ist es eben auch noch das schönste Velo der Welt.
Nachtreise - 23. Mai, 11:59
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Wer es nie erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen. Das umständliche Müllsystem der Schweiz zwingt mich, den Müll größtenteils zuhause aufzubewahren. An festen Terminen kann man dann jeweils bestimmte Müllgruppen auf den Gehweg stellen. Und endlich, endlich habe ich den nur monatlichen Termin für die Papier- und Kartonabholung mal nicht verpaßt. Seit Sylvester stapeln sich die Zeitungen und Kartonagen in der Küche und endlich nach ausführlichem Bündeln und dreimaligem Treppenlaufen habe ich diese Sammlung nun der Abholung übergeben.
Jeder Berliner sollte mal wirklich bewußt den Luxus genießen, zu jeder Tageszeit Glas, Papier, Biomüll, Hausmüll und den Grünen-Punkt-Müll wegwerfen zu können, ohne Terminduck, ohne festgelegtes Zeitfenster und Stapelvorschrift. Das ist nicht selbstverständlich und diese Freiheitsmomente können ruhig in vollem Bewußtsein ausgekostet werden.
Jedenfalls bin ich jetzt ganz stolz und meine Küche sieht plötzlich so groß aus... ;)
Nachtreise - 24. Apr, 00:21
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Vergangene Woche die Schlagzeile einer Schweizer Zeitung, noch über der Massenkarambolage von 64 PKW und 7 LKW am Genfer See:
Schweizer haben lahme Spermien
Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet die Schweizer sind in einem weltweiten Vergleich als unterdurchschnittlich aufgefallen, was Gesundheit und Geschwindigkeit ihrer Spermien angeht. Dabei schnitten die Deutschschweizer am schlechtesten ab, die französischsprachigen Romands haben da bessere Karten.
Nachtreise - 14. Apr, 19:39
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Das wunderbare Entsorgungssystem der Schweiz hat einen festen Platz in allen Publikationen über die Eidgenossen. Daß die Mülltrennung hier anders funktioniert als in Berlin erwähnte ich schon. Hausmüll und Papier wird irgendwo in den kleinen Wohnungen aufbewahrt und zu festen Terminen auf die Straße gestellt, abgeholt oder vom Wind zerstreut. Glas und Pet-Flaschen bringt man zu quartierseigenen Recyclingstationen und auch Blechdosen. Und das ist dann überhaupt der große Spaß, man gibt die Dosen am Einwurf des Containers auf ein Förderband mit kleinen Metallzähnen, das ein klein wenig weiter hinten in eine Presse führt. Man dreht dann seitlich ein großeres Rad, um das Förderband in Bewegung zu setzen und die Dosen mit körpereigener Muskelkraft in dieser Presse breitzuquetschen. Meiner Ansicht nach sollte jeder Schweiztourist einmal die Möglichkeit solch archaischer Gewaltausübung bekommen. Es erklärt die Gemütsruhe und die Agressionslosigkeit der Schweizer. Ich bin immer ganz traurig, wenn meine wenigen Dosen alle aufgebraucht sind. Ich frage mich weiter, ob auch andere überlegen, was man nicht außer Blechdosen alles hübsch dort hineinstecken könnte...
Nachtreise - 18. Mär, 22:08
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Heute bei sonnigen 20°C im T-Shirt den größten und ältesten englischen Landschaftspark der Schweiz bewandert, am Di sollen es wieder nur 5°C und Regen werden.
Nachtreise - 15. Mär, 20:10
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Ich bin heute Zielscheibe einer deutschfeindlichen Beschimpfung geworden. Auf dem Heimweg mit einer netten deutschen Kollegin trafen wir im Tram eine liebe schweizer Kollegin mit ihrem Mann. Freudiges Erkennen und Austausch des Wohin und Woher in Hochdeutsch/Schriftdeutsch folgten. In der Bank vor mir dreht sich eine schlecht gekleidete alkoholisierte Frau von ca. 45 Jahren herum und fängt an ausgerechnet die schweizer Kollegin zu beschimpfen. Ich nehme ritterlich alles auf mich in dem ich lüge, der einzige Deutsche hier zu sein, die Schweizerin kontert mit Baseldütsch. Ich soll aufstehen und aussteigen und muß mir anhören, ich solle nach Israel gehen, da würde ich mehr Stutz verdienen (Solche Nazianspielungen sind DER Klassiker). Ich kann nur wahrheitsgetreu sagen, daß ich gar nicht in der Schweiz arbeite sondern hier nur Steuern zahle. Dann steigt die Frau aus.
Tja, unter den Ausländern in Basel (ca 30% Ausländeranteil, durchschnittlich 20% in der gesamten Schweiz) haben die Deutschen im vergangenen Jahr die Exjugoslaven überrundet und stellen inzwischen laut meiner Migrationszeitung die größte ausländische Gruppe dieser Stadt. Vor allem in akademischen (auch in Museen und Theatern) und medizinischen Berufen sind heute mehr Deutsche als Schweizer in Basel beschäftigt.
Als Berliner kann ich solche "Angriffe" loker an mir abprallen lassen, ich bin aus dortigen öffentlichen Verkehrsmitteln aber auch durch die Arbeit vor allem im Pergamonmuseum einiges gewöhnt. Trotzdem, die überall unterschwellige Angst der Schweizer vor dem "übermächtigen" großen Nachbarn ist deutlich da und es ist nicht immer leicht, damit umzugehen, zu den eher unbelieben Völkern zu gehören.
Nachtreise - 11. Mär, 21:23
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Schweizer Kulturgut und Schweizer Identität sind grundsätzlich und immer wieder gefährdet. Einerseits weil jedes Tal, nahezu jeder Ort andere Traditionen und einen anderen Dialekt entwickelt haben, die sich allein durch den größeren Austausch in einem modernen Land mehr und mehr vermischen, andererseits durch die Überfremdung (die Schweiz ist ein Einwandererland - größte Gruppe sind die Deutschen) und die Umzingelung durch die EU. Sie hat gerade mit dem Verbot der Einfuhr von Rinderdärmen aus Brasilien die Nationalwurst, die Cervelat, gefährdet. Kein anderer Darm (da gibt es inzwischen lange Testreihen) garantiert alle notwendigen Qualitäten wie den raditionellen Durchmesser, die Knackigkeit, die Schälbarkeit der Wurst und vor allem den geringstmöglichen Eigengeschmack des Darmes. Es wurde mit Rinderdärmen aus Argentinien, mit Schweine- und Schafsdärmen experimentiert, alle waren unbrauchbar. Nun bangen die Schweizer um ihre Cervelat und haben eine Initiative gegründet:
www.rettet-die-cervelat.ch.
Nachtreise - 14. Feb, 15:40
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Die offiziellen
drey scheenschten Dääg in Basel sind heute überstanden. Meine (selbst wider besseren Wissens) unbezwingbare Neugierde und ein allgemein ethnologisches Interesse für meinen neuen Wohnort haben auch mich hinausgetrieben.
Grundsätzlich ist zu sagen, daß es bei der Basler Fasnacht, ähnlich wie in Venedig, tradditionelle Kostüme gibt. Ein wenig weniger elegant, ein wenig gruseliger. Das sind die Waggis. Es gibt zwar feste Termine für die
Schyyssdräggzügli, aber unvorstellbarerweise sind neben diesen drei organisierten Umzügen permanent flötende und trommelnde Gruppen in der Stadt unterwegs. Zum Teil nur zu dritt oder allein marschieren sie guerillagleich maskiert und lärmend, vor allem sinn- und ziellos durch die Stadt. Und die unmaskierten wie ich tun dasselbe. Alles läuft und läuft ohne Ziel, bis man völlig erschöpft ist. Wenn man nicht maskiert ist, sollte man wenigstens eine
Blaggedde tragen. Mit dem Kauf eines
solchen Abzeichens in Bronze, Silber oder Gold unterstützt man die Basler Fasnacht und ist sicher, daß die Masken einem nicht in alle Kleideröffnungen Konfetti stopfen. Ich war also permanent auf der Flucht.
Das beste Erlebnis war allerdings ein Umzug in Liestal. Die Leute dort löschen am Sonntagabend alle Lichter und laufen dann als Dämonenaustreiber mit brennenden Kienbesen und riesigen Feuerwagen durch die Altstadt. Die Flammen sind zum Teil so gewaltig, daß man sich als Zuschauer am Straßenrand kaum vor Ihnen schützen kann. Es wird ganz heiß, rußig und gruselig. Ein sehr archaisches Erlebnis. Total beeindruckend...

Durch die wirklich enge Altstadt und vor allem auch durch den Bogen des Stadttores werden die Wagen mit den hoch auflodernden Flammen gezogen.

Die brennenden Chienbäse sind die Klassiker bei dem Umzug in Liestal.
Nachtreise - 14. Feb, 09:42
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